“Chapter And Verse”: Bruce Springsteen erzählt sein Leben in 18 Songs
Zeitgleich mit seiner Autobiografie “Born To Run” veröffentlicht Bruce Springsteen nun als sogenannten “Audio Companion” das Album CHAPTER AND VERSE – zu hören sind darauf 18 Songs, die sich direkt auf einzelne Kapitel und Passagen des Buchs beziehen und so ihre ganz eigene Springsteen-Geschichte erzählen.
Text: Ernst Hofacker
1. Baby I (The Castiles, 1966)
Aller Anfang ist schwer – und oft getragen von Enthusiasmus. Zu hören ist das auf dieser frühen Springsteen-Komposition: Mit hörbarer Begeisterung dreschen die halbwüchsigen Castiles in einem primitiven Tonstudio im kleinen Ort Brick Township, nicht weit von Springsteens Heimatstadt Freehold gelegen, auf ihre Instrumente ein. Heraus kam dabei ein wunderbares Stück früher US-Beat, inspiriert durch die Beatlemania und…
2. You Can’t Judge A Book By The Cover (The Castiles, 1966)
…Idole aus der zu diesem Zeitpunkt schon wieder zehn Jahre vergangenen Ära des frühen Rock’n’Roll. Besonders angetan hatten es Bruce Springsteen Chuck Berry, Gary U.S. Bonds, Roy Orbison und die Stars der DooWop-Szene. Nicht zu vergessen: Bo Diddley, der mit Willie Dixons Komposition “You Can’t Judge A Book By Its Cover” 1962 einen bescheidenen Hit gelandet hatte.
3. He’s Guilty (The Judge Song) (Steel Mill, 1970)
Ende der 1960er-Jahre mauserte sich der junge Bruce Springsteen in der rührigen Szene von New Jersery zum vielversprechenden Talent. Bald versammelte er die besten Musiker der Gegend und versuchte in verschiedenen Formationen seinen Weg zu finden. Eine der ersten, die überregional für Aufmerksamkeit sorgte, war Steel Mill – und “He’s Guilty” eine ihrer Paradenummern (als Live-Bootleg auch bekannt unter dem Titel “He’s Guilty (Send This Boy To Jail)”, hier aber in einer bisher unveröffentlichten Studioversion zu hören).
4. Ballad Of Jesse James (The Bruce Springsteen Band, 1972)
Die Bruce Springsteen Band war ein direkter Vorläufer der E Street Band. Schon der Name sagt, dass Springsteen inzwischen das war, was man ihm Jahre später weltweit als Beinamen anhängen würde: der Boss. “Ballad Of Jesse James” ist eine schwerblütige Rockballade, verrät bereits deutlich Springsteens Handschrift und kursierte auf Bootlegs auch unter dem Titel “Don’t You Want To Be An Outlaw”. Die Aufnahme entstand am 14. März 1972 in Highland, New Jersey.
5. Henry Boy (1972)
Eine Folkballade darüber, wie es ist, irgendwo anzukommen und sich fremd zu fühlen, gehörte in den Jahren 1972/73 zu Springsteens Live-Repertoire bei Solokonzerten und demonstriert die reportagehafte Erzählweise seiner frühen Songs.
6. Growin’ Up (1972)
Der Song stammt aus der akustisch eingespielten Audition für John Hammond Sr. vom 3. Mai 1972. Der junge Springsteen konnte den legendären Talentscout, der schon Billie Holiday und Bob Dylan entdeckt hatte, mit seinen Songs überzeugen. In der Folge erhielt Springsteen einen Plattenvertrag bei Columbia. “Growin’ Up” taucht bis heute regelmäßig im Live-Set der E Street Band auf.
7. 4th Of July, Asbury Park (Sandy) (1973)
Eine aufwühlende Liebesballade vom Album THE WILD, THE INNOCENT & THE E STREET SHUFFLE (1973), mit der sich Springsteen als kluger Geschichtenerzähler und genauer Beobachter erweist. Bis heute ein Repertoire-Klassiker, der auch live immer wieder zu Ehren kommt. 1975 machten die englischen Hollies den Song mit ihrer Version in Europa zu einem kleinen Hit.
8. Born To Run (1975)
Ab jetzt – wir schreiben den Herbst 1975 – ging es für Bruce Springsteen richtig los: Der Titeltrack seines dritten Albums vereinte Chuck Berrys Lyrik, die Power-Produktion von Phil Spector und dem Geist von James Dean zur Seventies-Hymne mit ganz eigener Handschrift. Bis heute ist “Born To Run” Bruce Springsteens Signature-Song und rituelles Highlight seiner Konzerte.
9. Badlands (1978)
DARKNESS ON THE EDGE OF TOWN markiert nicht nur einen entscheidenden Schritt in Springsteens Evolution als Songwriter, der sich nun intensiv mit den Erzähltechniken der Countrymusik und mit dem Werk der großen US-Schriftsteller wie John Steinbeck beschäftigte. Wie Springsteen selbst anmerkte, lässt sich gerade an dem Song “Badlands” auch der starke Einfluss nachvollziehen, den die britische R’n’B-Band The Animals auf seine Musik hatte. Das Grundriff von “Badlands” ist deutlich von deren “Don’t Let Me Be Misunderstood” inspiriert.
10. The River (1980)
Der Schlüsselsong des gleichnamigen 1980er-Albums und einer der bekanntesten überhaupt im Repertoire des Sängers erzählt von der Desillusionierung eines jungen Paares, dessen Träume an den Realitäten des Alltags zu zerbrechen drohen. Tatsächlich war der Song inspiriert von Springsteens Schwester Ginny und deren Ehemann Mickey sowie den Lebensbedingungen während der von wirtschaftlicher Depression geprägten späten 1970er-Jahre in den USA.
11. My Father’s House (1982)
Die Beziehung zu seinem Vater gestaltete sich für Bruce Springsteen von Anfang an schwierig. Mehr noch: Sie wurde zur regelrechten Hypothek im Leben des jungen Künstlers. In langen und aufschlussreichen Passagen äußert sich Springsteen dazu in seiner soeben erschienenen Autobiografie. Erst gegen Ende des Lebens von Doug Springsteen, der 1998 mit 73 Jahren starb, hatten die beiden Männer ihren Frieden miteinander gemacht.
12. Born In The U.S.A. (1984)
Der neben “Born To Run” zweite Schlüsselsong in Bruce Springsteens Karriere – und sein wohl größter Hit. Geschrieben als Akustikballade, die sich mit den bitteren Gefühlen eines Vietnam-Veteranen auseinandersetzt, wurde der Song im Hitarrangement mit Keyboard-Fanfare und Dampframmen-Schlagzeug als patriotische Hymne missverstanden – auch vom Republikaner Ronald Reagan, der das Lied ohne Genehmigung für seinen Präsidentschaftswahlkampf benutzte. “Born In The U.S.A.” machte Springsteen zum 80s-Superstar wider Willen.
13. Brillant Disguise (1987)
Auf TUNNEL OF LOVE, Springsteens erstem echten Soloalbum, verarbeitete er vor allem auch das Scheitern seiner ersten Ehe. Im Mai 1985 hatte Springsteen das US-Model Julianne Phillips geheiratet, nur drei Jahre später schon war die kinderlose Ehe geschieden worden. “Brillant Disguise” verarbeitet den Entfremdungsprozess eines Paares mit Textzeilen wie dieser: “So tell me who I see when I look in your eyes – is that you, baby, or just a brillant disguise?”
14. Living Proof (1992)
LUCKY TOWN (1992) war Bruce Springsteens “Familienalbum”. Kurz zuvor war er zum ersten Mal Vater geworden und hatte mit Pattis Scialfa, Backgroundsängerin der E Street Band, seine große Liebe gefunden. Der lebende Beweis dieser Liebe (“Living Proof”) war im Juli 1990 zur Welt gekommen und hieß Evan James. Tochter Jessica Rae wurde kurz darauf, noch vor Veröffentlichung des Albums, geboren.
15. The Ghost Of Tom Joad (1995)
Das gleichnamige Album ist das wohl leiseste und nachdenklichste in Springsteens langer Karriere – weitgehend beschränkt sich der Mann, der mit den monumentalen Rockshows seiner E Street Band berühmt wurde, auf zurückhaltende, akustische Folkarrangements. Thematisch knüpfte Springsteen in seinen Songs vor allem bei dem Schriftsteller John Steinbeck an, dessen Roman über die Great Depression, “Die Früchte des Zorns”, er auch den Helden des Titelsongs entnommen hat.
16. The Rising (2002)
Lange hatte Bruce Springsteen kein Album mit neuen Songs mehr veröffentlicht. Nach den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 aber bedrängte ihm ein Fan an einer Tankstelle in New Jersey mit den unmissverständlichen Worten: “Bruce, wir brauchen dich!” Springsteen hatte verstanden. In der Folge entstand mit THE RISING eines der wichtigsten Alben seiner Karriere, dessen 15 Songs sich ausschließlich mit 9/11 beschäftigen.
17. Long Time Comin’ (2005)
Einige Songs des unterbewerteten Soloalbums DEVILS & DUST stammen in ersten Versionen aus zum Teil weiter zurückliegenden Karrierephasen, darunter auch “Long Time Comin’”. Die Folkrockballade geht auf die Arbeit an THE GHOST OF TOM JOAD zurück und reflektiert die Gefühle eines Familienvaters.
18. Wrecking Ball (2012)
Der Titelsong von Bruce Springsteens 17. Studioalbum stammt aus dem Jahr 2009 und ist eine Hommage an das alte Giants Stadium in East Rutherford, New Jersey, das 2010 abgerissen wurde. Die Arena im Meadowlands Sports Complex war nicht nur Heimstatt der Giants und der Jets, sie war auch Schauplatz vieler “Heimspiele” von Bruce Springsteen. Im Laufe der Jahre war er mit der E Street Band dort mehrfach aufgetreten, große Teile des Live-Albums LIVE/1975-85 sind dort entstanden.
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CHAPTER AND VERSE (Columbia/Sony Music) erscheint am 23. September 2016 als CD und Doppel-Vinyl, zusätzlich wird das Album als Download erhältlich sein. Das Booklet enthält Songtexte und seltene Fotos.
Mehr über die Entstehung seines Buchs “Born To Run” und das Album: Bruce Springsteen: Das Album zur Autobiografie