Mar
22
2011

DER JAZZ-SÄNGER KURT ELLING IM INTERVIEW

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waechter_blog“Es gehört viel Enthusiasmus dazu, sich dem Jazz zuzuwenden”
Die Auseinandersetzung mit der Tradition ist Teil des Jazz. Doch obwohl Kurt Elling, der bedeutendste Jazzsänger der letzten Jahre, die großen Musiker von einst verehrt, möchte er nicht in das Klagelied einstimmen, dass früher alles besser gewesen sei. Im Interview spricht er über den Jazz im Wandel der Zeiten und über sein neues Album The Gate. Heute abend spielt er im Münchner Jazzclub Unterfahrt. 

von Johannes Waechter

Kurt Elling, mir scheint, dass es gar nicht mehr so viele Jazzsänger gibt? Oder täusche ich mich?

Es gibt zweifellos weniger Männer als Frauen, die sich ernsthaft am Jazzgesang versuchen. Aber es gibt durchaus einige Neutöner, die nicht so bekannt sind, wie sie sein sollten. Zum Beispiel den Österreicher Theo Bleckmann. Oder J. D. Walter, der mit Leuten wie Dave Liebman aufgenommen hat. Aber im Prinzip haben Sie recht, viele sind das nicht.

Woran liegt das?

Da es noch nie besonders viele Jazzsänger gab, fehlen die Vorbilder. Und außer Frank Sinatra wurde auch kein Jazzsänger ein großer Star. Billy Eckstine bekam nicht die Aufmerksamkeit, die er verdient hätte. Nat Cole hätte viel bekannter sein müssen, aber es wurde ihm verwehrt, weil er Afro-Amerikaner war. Außerdem hängt es damit zusammmen, dass es zu wenig Musikunterricht in den Schulen gibt. Wenn junge Leute nicht mehr lernen zu singen, egal, in welchem Genre, dann gehört schon viel Enthusiasmus dazu, sich dem Jazz zuzuwenden, wo du weder einen Haufen Geld verdienst, noch besonderen Schlag bei den Mädchen hast.

Wie würden Sie den Unterschied zwischen Jazzgesang und Popgesang erklären?

Die erste Pflicht jedes Jazzmusikers ist die Improvisation. Bei jedem Auftritt muss er in der Lage sein, Melodien und Noten zu spielen, die er noch nie gespielt hat – und vielleicht auch noch niemand anders. Dabei besteht natürlich ein erhöhtes Risiko, dass das nicht gut klingt. Aber das gehört dazu. Im Prinzip beinhaltet Jazz die Verpflichtung, sich ein ganzes Leben lang musikalisch weiterzuentwickeln. Bei der Improvisation geht es nicht darum, zufällig ein paar Töne zusammenzustückeln. Man muss lernen, in jedem Augenblick wie ein Komponist zu denken. Das zu beherrschen, ist eine Lebensaufgabe.

Man muss auch ganz schön gut spielen können.

Absolut. Die technischen Herausforderungen sind gewaltig. Man muss sich mit Musiktheorie auskennen. Und man muss Beziehungen zu anderen Musikern bilden, mit ihnen auf einer tiefen Ebene kommunizieren.

Welche Jazzsänger haben Sie beeinflusst?

Jon Hendricks ist eine Vaterfigur für mich. Und Mark Murphy hat mir die Vergangenheit des Jazzgesangs nahe gebracht, zum Beispiel Joe Williams, Mel Tormé, Sarah Vaughan, Ella Fitzgerald, Betty Carter. Ich möchte ein Teil dieser Tradition sein und sie mit meiner Arbeit ehren.

In einem alten Interview haben Sie sich darüberhinaus zu Johann Sebastian Bach bekannt.

Ja, ich habe früher in einem Chor gesungen, da kommt man an Bach nicht vorbei. Er ist nicht nur einer der großen Komponisten. Er ist auch jemand, der die Evolution des menschlichen Bewusstseins entscheidend vorangebracht hat. Seine Musik wird auch in Zukunft eine große Rolle spielen. Ich frage mich oft, welche aktuelle Musik wohl die Zeit überdauern wird. Ich befürchte, nicht so viel.

Auch vom Jazz heißt es, dass dessen goldene Ära lange vorbei sei. Wie sehen Sie das?

Klar, man denkt ein bisschen wehmütig an die Zeit, als Bird, Dizzy, Miles, Monk und Oscar Peterson am Leben waren und alle auf höchstem Niveau musiziert haben. Das war sicherlich eine goldene Ära – aber kann es nur eine solche Ära geben? Jetzt sind wir zwei Generationen weiter und machen unsere eigene Musik. Ich finde, man diskreditiert die jetzt aktiven Künstler und all jene, die überhaupt erst noch geboren werden, wenn man sagt, die besten Jahre lägen bereits hinter uns.

Was erwarten Sie von den heutigen Jazzmusikern?

Der Jazz entstand einst als Reaktion auf soziale Veränderungen, auf neue Technologien und auf den Klang einer immer dichter werdenden urbanen Umgebung. Jetzt leben wir im Computerzeitalter, wir kommunizieren auf extrem schnelle und vielfältige Weise, wir haben Al Qaida, wir haben den Klimawandel, und wir haben auch ein ganz andere Musik als früher. Nur leider wird ein Großteil der tollen Musik, die heute entsteht, nur von einem Bruchteil der Bevölkerung gehört. Oft sind die Musiker ihrer Zeit voraus, aber seien wir ehrlich: Genauso war es doch, als Monk noch spielte. Wie viele Leute haben denn dessen Platten damals gekauft? 4000, 5000? Mehr waren es nicht. Dennoch gilt er für uns heute als Genie.

Ich habe vor einiger Zeit mit Ben Sidran gesprochen. Nach dessen Meinung liegt das Hauptproblem im aktuellen Jazz darin, dass es für junge Musiker heute so schwierig ist, ihren eigenen Ton, ihre eigene Stimme zu finden.

Ich verstehe, was er sagen will. Wir leben in einer neuen musikalischen Ära. Die jungen Musiker lernen Jazz heute nicht mehr in ihrer Nachbarschaft oder in rauchigen Clubs, sondern auf Musikhochschulen. Da hat man zwangsläufig eine größere Uniformität des Klangs. Dennoch möchte ich fragen: Wie viele wirklich einzigartige Stimmen gab es damals? Es war eine besondere Zeit, aber war sie auch einzigartig? Ich glaube, die Kreativität kommt in Wellen. Heute müssen Musiker viel mehr Informationen verarbeiten müssen als früher, und ich bin fest überzeugt, dass irgendwann ein neues musikalisches Bewusstsein entstehen wird, dass all diese Ideen reflektiert.

Auf Ihrem neuen Album The Gate spielen sie einige ungewöhnliche Coverversionen, Songs von King Crimson, Joe Jackson, Stevie Wonder und den Beatles. Wie ist die Platte entstanden?

Zu Anfang hatte ich vor allem eine Klangatmosphäre im Kopf. Auch konnte ich mir diesmal die Musiker aussuchen, ich wusste was sie draufhaben. Dennoch hätte ich gedacht, die Platte würde etwas schneller, fröhlicher werden. Nun hört sie sich doch eher nachdenklich an. Aber das entspricht wohl meinem Wesen.

Als Produzent amtierte Don Was, der schon Alben von Rockgrößen wie Bob Dylan, Iggy Pop und den Rolling Stones produziert hat. Welche Rolle hat er gespielt?

Don war für mich eine Art Schutzschild. Es ist mir gelegentlich passiert, dass die Plattenfirma oder das Management Einspruch gegen meine Ideen erhoben haben. Don hat hingegen einfach gesagt, super, das machen wir so, und keiner hat es gewagt, ihm zu widersprechen. Ich muss sagen, dass ich noch nie so tolle Unterstützung bei einer Plattenaufnahme hatte.

Letzte Frage: Stimmt es eigentlich, dass Sie in Barack Obamas alter Wohnung in Chicago leben?

Ja, das stimmt. Zu seiner Zeit als Senator hat Barack mit seiner Familie noch dort gewohnt, aber dann wurde er immer erfolgreicher und brauchte ein Haus. Meine Frau war zu der Zeit schwanger und wir haben eine Wohnung mit Waschmaschine gesucht. Ich hatte in seiner Kampagne mitgearbeitet und kannte ihn ein bisschen. Also ist er in ein großes Haus gezogen und wir bekamen seine Waschmaschine und seinen Trockner.

Kurt Ellings neues Album “The Gate” (Concord/Universal) ist am vergangenen Freitag erschienen. Heute Abend tritt er im Münchner Jazzclub Unterfahrt auf, am Sonnabend spielt er beim Jazzfestival Burghausen.

Fotos: Timoty Saccenti 

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Johannes Waechter, 1969 geboren, stammt aus Berlin und war Mitte der Neunziger Musikredakteur der Berliner Stadtzeitschrift Zitty. Seit 1999 ist er Redakteur beim SZ-Magazin, wo er in den Jahren 2005 und 2006 zusammen mit Philipp Oehmke die Süddeutsche Zeitung Diskothek herausgegeben hat, eine 52-bändige Buch/CD-Reihe zur Geschichte der Popmusik. In diesem Blog geht es nicht nur um das derzeitige Popgeschehen, sondern vor allem um den großen Zusammenhang zwischen vergangener und aktueller Musik, inspiriert von Bob Dylans Worten: “It’s always good to know what went down before you, because if you know the past, you can control the future”.