RIO REISER: LANG LEBE DER KÖNIG!
15 Jahre ist es her, dass mit Rio Reiser der neben Udo Lindenberg einflussreichste Liederschmied deutscher Zunge starb. Ohne ihn würden die einheimischen Charts heute anders aussehen.
Text: Ernst Hofacker
Als er Mitte der 1960er Jahre begann, waren Beatles und Stones noch das Maß der Dinge, und die deutsche Musikszene beschränkte sich auf das Kopieren der angloamerikanischen Vorbilder. Auch Ralph Christian Möbius machte Beat. Aber nicht lange. Bald hatte er mit seinem Kumpel R.P.S. Lanrue die legendären Ton Steine Scherben gegründet, und spätestens jetzt machte sich der gebürtige Berliner, der sich fortan Rio Reiser nannte, seinen eigenen Reim auf die Dinge.
Sanfte Zwischentöne
Als TSS in den frühen 1970er Jahren zu Underground-Stars und Gallionsfiguren der linken Politszene wurden, verdankten sie das vor allem den griffigen Slogans, die Reiser zu deftigem Bluesrock ins Mikrophon wütete. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, „Keine Macht für niemand“, „Allein machen sie dich ein“ – Rios Texte trafen den Nerv einer Generation, die vom Vietnamkrieg, dem Dutschke-Attentat und dem Ende des Prager Frühlings gründlich desillusioniert war und von romantischen Hippieträumen Abschied genommen hatte. Vordergründig waren TSS der grobe musikalische Keil, der auf die damals polarisierte politische Situation gehörte. Wer indes genauer hinhörte, stellte fest, dass die Politrocker in vielen Texten deutlich subtilere und sensiblere Töne anschlugen. Songs wie das berührende „Wenn die Nacht am tiefsten“, „Komm schlaf bei mir“ und „Halt dich an deiner Liebe fest“ zeigten einen Rio Reiser, der mit versierter Sprache die Innenwelten seiner verunsicherten Generation erkundete und dabei nicht auf Umsturz, sondern auf Liebe setzte. Auf der Bühne spielten die Scherben bereits Mitte der 1970er Jahre frühe Versionen späterer Reiser-Hits, darunter seine wohl bekannteste Ballade „Junimond“. Auch die rauschhafte Phantasie vom „König von Deutschland“ entstammte noch der Scherben-Zeit, sie war zu Beginn der 1980er Jahre entstanden.
Verneigung vor dem viel zu früh verstorbenen Poeten
1986 begann der Sänger mit „Rio I.“ seine Solokarriere. Aus dem scharfzüngigen Parolendichter der Politszene war ein sensibler und wortgewaltiger Poet geworden, dessen Sprachbilder denen der Konkurrenz an Dichte, Originalität und Eindringlichkeit um Lichtjahre voraus waren. Als Reiser am 20. August 1996 mit nur 46 Jahren an den gesundheitlichen Folgen seines exzessiven Lebenswandels starb, waren deutsche Texte in den einheimischen Charts zwar noch immer die Ausnahme, eine neue Generation von Musikern aber begann nun ein unverkrampftes Verhältnis zur eigenen Sprache zu entwickeln. Wobei sie sich unmissverständlich auf das Erbe von Rio Reiser berief. Tributealben und -konzerte sowie zu Hitehren gelangte Coverversionen („Junimond“ von Echt, „Für immer und dich“ von Jan Delay) legen davon Zeugnis ab. Bis heute verpassen etablierte Größen der einheimischen Popzunft keine Gelegenheit, den Hut vor dem Mann aus Berlin zu ziehen, das Spektrum reicht dabei von Wir sind Helden und Fettes Brot über Annett Louisan und Christina Stürmer bis hin zu Herbert Grönemeyer und Clueso.