Oct
20
2011

DER UNBEKANNTE DYLAN

Ein neuer Sampler namens Pure wirft einen frischen, neuen Blick auf Bob Dylans Werk. Auf einmal erscheint der Sänger weniger als Politprophet oder Sechziger-Ikone, denn als emphatischer Sänger und Mundharmonikaspieler.

Von Johannes Waechter

WaechterDas erste Best-Of-Album von Bob Dylan erschien bereits 1967, als er sich in Woodstock von seinem Motorradunfall erholte. Dylans Plattenfirma befürchtete damals allen Ernstes, dass die Öffentlichkeit den Star vergessen könnte, wenn mal ein paar Monate lang nichts von ihm auf den Markt käme. Seitdem sind so viele Dylan-Sampler erschienen, dass man meinen könnte, diesem Format sei nichts neues mehr abzugewinnen. Doch nun kommt mit Pure ein überraschend vitaler Sampler heraus, der ganz andere Schwerpunkte setzt als bisherige Zusammenstellungen.

Der Sampler ist direkt bei Sony Deutschland zusammengestellt worden und erscheint erstmal nicht in England oder den USA. (Damit erinnert er an die CD Live 1961–2000: Thirty-Nine Years of Great Concert Performances, die 2001 von Sony Japan gemacht wurde und damals in Europa vorübergehend als Import erhältlich war.) “It’s a collection of fan favorites and rarely heard songs from basically all stages of Bob Dylans’s career”, steht im Booklet, und in der Tat dürften einige der hier enthaltenen Songs weit oben auf den Bestenlisten der meisten Dylan-Liebhaber stehen, von “Moonshiner” über “Spanish Is The Loving Tongue” und “Every Grain Of Sand” bis zu “Most Of The Time”. Auf Pure wurden diese Songs nun so klug und kunstvoll zusammengestellt, dass es den Fan aufs höchste erfreut und allen anderen eine neue, ungewöhnliche Perspektive auf Dylans Werk eröffnet.

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Bei der diesjährigen Aufregung um den Literatur-Nobelpreis hat man wieder einmal gesehen, dass viele weiterhin dem Missverständnis anhängen, bei Bob Dylan handele es sich um einen Dichter, der seine Songs nebenbei auch singt (was er aber nicht gut kann.) Seine großen Songs sind inzwischen so sehr Teil des kulturellen Erbes geworden, dass viele sie eher als historische Wegmarken oder Insignien des persönlichen oder sozialen Wandels wahrnehmen, denn als das, was sie eigentlich sind: von einem Sänger dargebotene Musikstücke. Pure lenkt nun den Blick zurück auf Dylans Musikalität, hier muss Dylan nicht als Ikone oder Politprophet herhalten, sondern darf das sein, als was er sich selbst sieht: “Alles, was mich kümmert, ist meine Performance als Musiker und Sänger”, so umriß er im Spiegel 1997 sein Selbstbild.

Gerade über Dylans Stimme sind ja viele Witze gemacht worden, aber wer diese CD vorurteilsfrei anhört, wird einen unglaublich intensiven, emphatischen Sänger entdecken, dessen Phrasierung ebenso unverwechselbar ist wie sein Ton. Durch den weiten Bogen, den die CD schlägt, entsteht auch ein Eindruck von den faszinierenden Wandlungen von Dylans Stimme, bis hin zum schroffen Growl der Nullerjahre, der an Blues-Shouter wie Howlin’ Wolf und Charley Patton erinnert.

PureDylan_Cover_klein (1)Ein zweites Thema des Albums ist Dylans Mundharmonikaspiel. Auch dieser Aspekt seines musikalischen Wirkens wird oft unterschätzt, die Soli auf “Tomorrow Night” und “Every Grain Of Sand” zeigen jedoch, dass er die Mundharmonika nicht nur effektvoll einzusetzen versteht, sondern — wenn er möchte — auch virtuos. Für mich gehört das Solo auf “Every Grain Of Sand” jedenfalls zu den schönsten Instrumentalpassagen in seinem Werk.

Unter den Raritäten, die Pure enthält, ist schließlich noch einbesonderes Highlight: das Stück “Trouble In Mind”, ein 1979 aufgenommenes Outtake von den Slow Train Coming-Sessions, bisher nur als Single-B-Seite erhältlich und auch da nur in gekürzter Form. Es war das erste Stück, dass damals in Muscle Shoals aufgenommen wurde, als Dylan nach einem christlichen Erweckungserlebnis eine neue Form für seine Musik suchte. Musikalisch basiert das Stück auf einem Bluesgroove, der Text enthält mehrere Bibelzitate, Dylan predigt mit dem Feuer des frisch Bekehrten. Damals rief diese Musik eine große Kontroverse hervor, bis heute gilt sie vielen als Anomalie in seinem Werk. Dank Pure wird man nun daran erinnert, wie stark auch diese Phase war; selten sang Dylan mit größerer Intensität. So weckt der neue Sampler nebenbei auch die Hoffnung, dass eine zukünftige Ausgabe der Bootleg Series Dylans Gospeljahren gewidmet werden wird.

Der CD-Sampler “Pure” (Sony) erscheint am 21.10.2011.

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Johannes Waechter, 1969 geboren, stammt aus Berlin und war Mitte der Neunziger Musikredakteur der Berliner Stadtzeitschrift Zitty. Seit 1999 ist er Redakteur beim SZ-Magazin, wo er in den Jahren 2005 und 2006 zusammen mit Philipp Oehmke die Süddeutsche Zeitung Diskothek herausgegeben hat, eine 52-bändige Buch/CD-Reihe zur Geschichte der Popmusik. In diesem Blog geht es nicht nur um das derzeitige Popgeschehen, sondern vor allem um den großen Zusammenhang zwischen vergangener und aktueller Musik, inspiriert von Bob Dylans Worten: “It’s always good to know what went down before you, because if you know the past, you can control the future”.