BOB DYLAN: Judas oder Retter? THE 1966 LIVE RECORDINGS
Bob Dylan hat 1966 den Folk nicht verraten – er hat ihn nur gründlich entstaubt und damit gerettet. Mit THE 1966 LIVE RECORDINGS und THE REAL ROYAL ALBERT HALL 1966 CONCERT! erscheinen ein opulentes Boxset (36 CDs) und eine Doppel CD mit Aufnahmen der epochalen Bob Dylan Welttournee aus dem Jahr 1966. Und damit schließt sich eine der größten Lücken in Dylans Live-Diskografie. Die Tour im Jahr 1966 sollte die Rockmusik und den Musiker Bob Dylan nachhaltig verändern, die Aufnahmen zeigen nun, warum.
Text: Jan Kubon
Leute hört her! – Die Zeiten ändern sich!!!
London 1966 – die Beatles bringen mit REVOLVER die Platte raus, die Pop für immer verändern sollte. Die Zeit der Unschuld ist vorbei. Drogen, neue Klangwelten halten Einzug in die Popmusik. Pink Floyd machen sich mit ihren surrealen Soundexperimenten auf den Weg den Popsong aus der 3-Minuten-Haft zu entlassen, The Who singen “The Kids Are Alright” und geben ihrer Generation einen Schlachtruf. Und in Amerika ist es Bob Dylan, der mit seiner eigenen Metamorphose vom Folkstar zum Rock’n’Roller die Musikwelt für immer verändern sollte. Die Popwelt ist in Aufruhr.
Ich trage meine schwarze Sonnenbrille!
In diese Zeit hinein kündigt Bob Dylan für das Frühjahr eine Welttournee an. Seit zwei Alben (BRINGING IT ALL BACK HOME / HIGHWAY 61 REVISITED) hat er sich vom tradierten Folksong gelöst. Die Schiebermütze ist weg. Dylan will nicht mehr als der Folkie, der Protestsänger, wahrgenommen werden. Er will die Rock’n’Roll Variante des Outlaws sein, den er 1965 im “Outlaw Blues” besingt. Ein Sänger mit elektrischer Gitarre und Sonnenbrille – ein Musiker, der neue Wege gehen möchte, der nach vorn blickt und sich dabei auf die Wurzeln der Rockmusik, den Blues bezieht – in seiner rauesten, lautesten Art. Von jetzt an ist er mehr Muddy Waters als Woody Guthrie. Die Entscheidung ist gefallen – Dylan ist ein Rockstar!
Das Band läuft!
Die nun vorliegende Box THE 1966 LIVE RECORDINGS dokumentiert das Ende der ersten Wandlung Dylans. 36 CDs! Über zwanzig Stunden Dylan live in seiner vielleicht kreativsten Phase in reinster Essenz. THE 1966 LIVE RECORDINGS ist die erste komplette Sammlung aller bekannten Aufnahmen der Tour, die Dylan von Australien, über Skandinavien nach London führte.
Darauf zu finden sowohl Stereo-Mitschnitte, direkt vom Live-Toningenieur Richard Alderson aus dem Mischpult heraus aufgenommen, Mitschnitte des CBS Mobile Records und als Ergänzung Mitschnitte, die von Konzertbesuchern gemacht wurden. Die nun erstmals offiziell veröffentlichten restaurierten und von den Originalbändern gemasterten Aufnahmen sind in Sachen Klangqualität um einiges besser als die Bootlegs, die seit fünfzig Jahren existieren.
Die Idee zur Veröffentlichung einer derart umfassenden Box hat Sony Legacy während der Sichtung von Aufnahmen für THE CUTTING EDGE (Bootleg Series XII ). Sony Legacy Chef Adam Block: “Als wir die Archive (…) mit Dylans Studiosessions der mittleren 1960er-Jahre durchforsteten, staunten wir immer wieder über die großartige Qualität der Live-Aufnahmen von 1966”.
“Hat das jetzt irgendwer verstanden? – Wenn ja, lasst es mich wissen!”
Es ist aber gar nicht so sehr die Tonqualität, sondern vielmehr das, was auf den 36 CDs zu hören ist, was so besonders ist. Die ganze Intensität der Konzerte ist nun auf einmal spürbar und nacherlebbar. Nehmen wir die Sheffield Show, in der Dylan vor “Just Like Tom Thumbs Blues” das Publikum mit einer aufreizend launischen Ansage verwirrt und dann fragt: “Hat das jetzt irgendwer verstanden?” und nach kurzer Pause: “Dann lasst es mich wissen”; es folgen zynisches Lachen und Buhrufe aus dem Publikum. Die Situation hat etwas Bedrohliches, bevor Dylan sich und das Publikum erlöst und seine Band mit einem infernalischen Intro auf die drogenschwangere Albtraumreise nach Mexico schickt und eine ungeheuerlich gute Version des Songs abliefert.
Oder gleiches Konzert: vor “Leopard –Skin- Pill-Box Hat”: aggressive Zwischenrufe, Aufforderungen, er soll doch nach Hause gehen, und Dylans “Blabla… Blabala , Dudum- Antwort”, mit der er den selbsternannten Dylandeutern im Saal all seinen Unmut entgegentönt, nur um sich und seine Musiker danach in eine der furiosesten Liveversionen des Songs zu stürzen, die jemals aufgenommen wurde. Die aggressive Stimmung auf den Rängen und die Magie auf der Bühne ist absolut greifbar.
“I’m not gonna fight you!!!!”
Dass solche Momente überhaupt festgehalten wurden, ist eher einem Zufall zu verdanken. Anfänglich eher sporadisch drückt der Toningenieur Richard Alderson am Anfang der Tour die Aufnahmetaste seines kleinen portablen Aufnahmegerätes, auch um sich einen Eindruck von seiner neuen Anlage und seinem Mischpult zu verschaffen. Die PA gehörte damals zum lautesten und modernsten, was auf der Straße unterwegs war. Später dann ab Anfang Mai werden die Konzerte komplett mitgeschnitten. So entstand diese fast vollständige Dokumentation der epochalen Tour quasi aus dem Zufall heraus. Und egal, welche CD man auch aus der opulenten Box nimmt – innerhalb von ein paar Sekunden ist man von der musikalischen Qualität des 25-jährigen Dylan und seiner Band: Robbie Robertson (Guitar), Rick Danko (Bass, Background Vocals), Richard Manuel (Piano), Garth Hudson (Organ) und Mickey Jones (Drums) gefesselt. Der Sound ist roh, ehrlich, dreckig, Dankos Bass ist das Fundament, auf dem Robertson und Dylan ihre Hooks legen – Richard Manuel’s Orgel war schon damals unbeschreiblich präzise und Jones treibt mit seinem Spiel die ganze Band(e) an. Darüber die unverwechselbare Stimme Bob Dylans – das ist so berührend wie verstörend zugleich. Ja wie fühlt es sich denn an, wenn man sich missverstanden fühlt: ” How does it feel???” Es fühlt sich genau an, wie es Dylan in Paris (CD 26) singt. Wehmütig, verletzt und zornig. So klingt Rock’n’Roll – so klingt Dylans Version von Rock’n’Roll.
Das Ende eines Mythos – THE REAL ROYAL ALBERT HALL 1966 CONCERT!
Flankierend zur Box erscheint mit THE REAL ROYAL ALBERT HALL 1966 CONCERT! eine weitere Veröffentlichung. Hierbei handelt sich um das echte Konzert in der Londoner Albert Hall vom 26. Mai. Und damit wird mit einem Mythos aufgeräumt. Die legendären Judas Rufe, für die das sogenannte Royal Albert Hall Konzert berühmt geworden ist, sind auf dem Album nämlich nicht zu hören: Wie auch? Denn dieser Vorfall, der zur Rock’n’Roll Legende wurde (und der dieses Bootleg zu einem begehrten Sammlerstück werden ließ), ereignete sich bereits einige Tage zuvor in der Trade Hall in Manchester.
Die Legende ist nun passé – aber eine neue könnte geboren sein. Die Legende von einem der intensivsten und musikalisch besten Konzerte, das Dylan 1966 gegeben hat. Und dabei standen die Vorzeichen dafür gar nicht so gut. Nach fast drei Monaten Tournee ist Dylan müde, am Ende – die intensiven Konzerte und die andauernde Kritik am “neuen” Bob Dylan sind an den Musikern nicht spurlos vorbeigegangen. Eigentlich sollte London der krönende Abschluss der Tour werden und deshalb – und auch weil er es seinen Kritikern noch einmal richtig geben will – rafft er sich noch einmal auf, konzentriert all seine Energien (die guten und die schlechten) in die Songs und seine Performance. Das Akustik- Set mit “Desolation Row” , “Just Like A Woman”, “Visions Of Johanna” ist präzise, direkt von allem Ballast befreite Songkunst. Dylans Mundharmonika-Begleitung (“She Belongs To Me” / “4th Time Around”) klingt selten besser und konkreter. Das Band-Set ist ein elektroakustischer Hurrikan, ein Sturm getragen von Wut, Stolz und Genius. Und im Auge des Sturms steht Dylan – seine Fender-Gitarre fest im Griff, den Blick immer voraus.
Ein letztes Wort zum Artwork: Die Doppel-CD steckt in einer mit Fotos aus D.A. Pennebakers filmischer Dokumentation der England Tour 1966 DON’T LOOK BACK äußerst geschmackvoll gestalteten (wie übrigens auch das ganze Boxset ein optischer Hingucker ist) Doppel-Folder Papphülle mit detaillierten Angaben zum Aufnahmedatum, den Musikern, Produzenten sowie den Experten beim Mastern und beim Mixen.
Was bleibt ?
Beide Veröffentlichungen schließen eine große Lücke in der Dylan Diskografie. Zusammen sind sie das Dokument einer der aufregendsten Phasen in der langen Karriere von Bob Dylan. Die vorbildlichen Linernotes der Box von Musikjournalist Clinton Heylin, die genauen Angaben zu den Quellen der Originalbänder und Aufnahmen im Booklet und die brillante authentische Soundqualität sowie das kuratorische Geschick der Verantwortlichen machen THE REAL ROYAL ALBERT HALL 1966 CONCERT! und THE 1966 LIVE RECORDINGS zu einem unverzichtbaren Muss für alle Fans von Bob Dylan.
Den Worten von Sony Legacy Chef Adam Block ist in diesem Falle nichts hinzuzufügen: “Die Intensität von Bobs Auftritten und seine fantastische Bühneninterpretation dieser Songs eröffnen ganz neue Einblicke, mit deren Hilfe wir die musikalische Revolution, die Dylan vor 50 Jahren in Gang setzte, besser verstehen und würdigen können.”
BOB DYLAN – “The 1966 Live Recordings” (36 CD Box, neuen Linernotes) erscheint am 11. November 2016. Das umfangreiche Set ist ein Muss für Bob-Dylan-Fans und Sammler, die noch einmal den jungen Singer-Songwriter live erleben wollen – zumindest auf CD.
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BOB DYLAN – “The Real Royal Albert Hall 1966 Concert! (Live)” erscheint am 25. November 2016 als Doppel-CD, Download und Doppel-Vinyl.
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