Sep
19
2016

Jimi Hendrix: Machine Gun – Sein Aufbruch in ein neues Jahrzehnt!

Jimi Hendrix Machine Gun

Es war sicher einer der heißesten Jahreswechsel der Rockgeschichte: Am 31. Dezember 1969 und am 1. Januar 1970 spielte Jimi Hendrix mit seiner neugegründeten „Band of Gypsys“ insgesamt vier ausverkaufte Konzerte im legendären Fillmore East Club in New York City. Das Publikum war bis zum Äußersten gespannt, was es hier erwarten würde. Zu Recht. Denn heute werden diese Hendrix-Shows zu den historischen Events der Musikgeschichte gezählt! Das erste Fillmore-East-Konzert vom 31.12.1969 erscheint nun erstmals komplett und in voller Länge auf CD und Vinyl! Es ist das Dokument eines Richtungswechsels in Hendrix’ Karriere, einer Art Neubeginn – pünktlich zum Anbruch des neuen Jahrzehnts…

Text:  Alex Gernandt

Der Ausnahmegitarrist aus Seattle hatte eine klare Vision: ständige Weiterentwicklung! Er wollte sich niemals auf „alten Lorbeeren“ ausruhen, sondern immer wieder Neues schaffen und seine Fans damit überraschen. Das ist bei diesem Auftritt zum Jahreswechel 1969/70 deutlich zu spüren: in Form der Auswahl der Songs (keine bekannten Hits!), seiner Spielweise (nicht mehr ganz so körperbetont!) und nicht zuletzt durch die beiden neuen Musiker (Billy Cox und Buddy Miles) an seiner Seite.

Die Band of Gypsys ist geboren

Nach der Auflösung der Jimi Hendrix Experience mit Bassist Noel Redding und Drummer Mitch Mitchell, mit denen er seit Londoner Tagen im September 1966 zusammengespielt hatte, trat er am 18. August 1969 beim historischen Woodstock-Festival mit der Band „Gypsy Sun And Rainbows“ auf, zu der zunächst noch Drummer Mitchell gehörte sowie Bassist Billy Cox, den er einst im Militärdienst kennengelernt und die Band „King Kasuals“ gegründet hatte.

Jimi Hendrix – mittlerweile der höchstbezahlte Musiker der Welt – war besessen davon, sich stets weiterzuentwickeln. Mit Mitch Mitchell hatte es zuletzt musikalische Differenzen gegeben. Er flog in seine Heimat England zurück, sodass der Schlagzeugposten plötzlich verwaist war. Zu Billy Cox, der Hendrix einmal bewundernd als „Kombination von John Lee Hooker und Beethoven“ bezeichnete, gesellte sich daher nun der erfahrene Drummer Buddy Miles, der zuvor in diversen Blues- und R&B-Bands gespielt und 1968 auf Hendrix’ Song „Rainy Day, Dream Away/Still Raining, Still Dreaming” vom „Electric Ladyland“-Album gedrummt hatte. Die Band Of Gypsys war geboren.

Akribische Vorbereitung

Ab Oktober 1969 begann die neue Band das neue Repertoire für die geplanten Konzerte im Fillmore East zu erarbeiten. In den Juggy Sound Studios und den Baggy’s Studios in New York wurde hart und unermüdlich geprobt. In einem Interview erinnerte sich Hendrix einst an die Zeit: „Wir haben täglich 12 bis 18 Stunden geprobt – und sind danach in einen kleinen funky Club gegangen und haben dort weitergejammt, um das Material live zu testen!“

Jimi Hendrix verbrennt GitarreDiese akribische Vorbereitung unterstreicht die Bedeutung der anstehenden Auftritte im Fillmore East. Wie man ein Publikum unterhält, hatte Jimi als Musiker bereits Mitte der 60er Jahre auf ausgedehnten Tourneen in den Bands von Little Richard (“The Upsetters“) und den Isley Brothers gelernt. Als Solokünstler spielte er sich ab 1966 auf der Bühne regelrecht in Ekstase – und brachte damit wiederum die Fans zum Ausrasten. Er bearbeitete die Gitarre mit seinen Zähnen, als seien die Saiten Zahnseide, spielte sie artistisch hinter seinem Kopf – und verbrannte sie am Ende der Show sogar, erstmals bei der Zugabe „Wild Thing“ beim Monterey Pop Festival im Juni 1967 in Kalifornien, seinem großem Durchbruch damals in den Staaten.

Apocalyptische Klangkaskaden

Auch wenn es zu einer Art Markenzeichen geworden war und die Fans es liebten – von dem wilden Gehabe auf der Bühne hatte Jimi jetzt, gegen Ende 1969, genug! Er war gereift und wollte diese sogenannte „Wild Man of Borneo“-Nummer nicht mehr abziehen. Das zeigen seine Shows im New Yorker Fillmore East, bei denen er sich weit weniger ekstatisch bewegte als gewohnt. Seine volle Konzentration und Hingabe galt der Gitarre, der Musik. Sehr zum Leidwesen seines dubiosen Managers Michael Jeffrey, dem Business-Partner von Chas Chandler, der lieber weiterhin spektakuläres Stageacting von Jimi gesehen hätte, weil es die Zuschauer in die Konzertsäle trieb und die Kassen füllte. Doch Hendrix zog sein Ding unbeirrt durch, und zwar mit Erfolg! Er hatte eine Vision, eine genaue Vorstellung, was er auf der Bühne von sich geben wollte. Spektakulär, ja magisch, war sein Spiel auf der Fender Stratocaster nach wie vor: Durch eine Vielzahl geschickt eingesetzter Effekte, etwa dem Vox Wah Wah Pedal, einem Unicord Univibe oder einem Dallas Arbiter Fuzz Face schaffte er es, seinem Instrument Töne zu entlocken, die man so noch nie gehört hatte! Als „apocalyptische Klangkaskaden“ bezeichnete sie einst Fritz Rau, Jimis unvergessener deutscher Konzertpromoter.

Die Geburtsstunde des Funk-Rock

Hörbeispiele gibt es auf dem Livealbum „Machine Gun: Fillmore East 12/31/69“ en masse. Besonders hervorzuheben ist „Machine Gun“, Kernstück und Titel des Albums! Der Song gilt als musikalischer Höhepunkt Jimis Karriere und zeigt deutlich sein Genie. Er setzte damit laut Kritikern gar einen „neuen Standard für das Potential der elektrischen Gitarre“!

Auch Songs wie etwa der Opener „Power of Love“, „Lover Man“, „Bleeding Heart“, „Burning Desire“ und das von Miles gesungene „Changes“ sind eindrucksvolle Belege für die Neuausrichtung Hendrix’. Ein weiterer Höhepunkt ist der sechseinhalbminütige „Earth Blues“ mit seinem eindringlichen Text: „Well, I see hands and tear stained faces / Reachin’ up but not quite touching the promised land / Well, I taste tears and a whole lot of previous years wasted / Saying ‚Lord please give us a helping hand…“

Durch den gelungenen, nie zuvor gehörten Mix aus Funk, R&B, Blues und Hardrock gelten die Stücke dieses Konzerts laut George Clinton (Parliament, Funkadelic) „als Geburtsstunde des Funk-Rock.“

JimiHendrix_© Sam FeinsilverHendrix baut eine eigene Welt

Hendrix sagte über seine Konzerte einmal passend: „We build our own little world here in the concert!“ – Wir bauen uns unsere eigene kleine Welt. Das Fillmore East war jetzt „diese Welt“, Schauplatz eines neuen außergewöhnlichen Live-Spektakels. Der Club war im März 1968 von Konzertpromoter Bill Graham in New York eröffnet worden – als Ostküsten-Pendant zum längst etablierten Fillmore West in San Francisco, in dem Jimi Hendrix bereits zuvor mit der „Experience“ mehrfach aufgetreten war und von Graham damals nach den gelungenen Konzerten einen wertvollen Ring als Zeichen seiner Anerkennung geschenkt bekam. Im Fillmore East, einem ehemaligen Theater mit einer Kapazität von 2.600 Zuschauern an der Second Avenue/ Ecke East 6th Street in Manhattan, wurden unzählige Live-Alben aufgenommen, etwa von Miles Davis, Grateful Dead, Jefferson Airplane, Derek & the Dominos, den Allman Brothers, King Crimson und nicht zuletzt eben von Jimi Hendrix und seiner Band Of Gypsys.

Eric Burdon, der legendäre britische R&B- und Bluessänger, der 1964 mit seiner Band The Animals die sogenannte British Invasion in den USA mitanführte, erinnert sich im Interview mit dem Autor an seine Begegnungen mit Hendrix: „Ich habe ihn im September 1966 kennengelernt, gleich nachdem ihn mein ex-Animals-Kollege Chas Chandler in New York entdeckt und nach London gebracht hatte. Ich war gerade dabei, die New Animals zusammenzustellen, als er plötzlich bei meiner Bandprobe auftauchte. Er fragte, ob er sich eine Gitarre nehmen dürfe – und legte mit einem sagenhaften Blues los. Ich war baff. Sein emotionsgeladenes Spiel hat mich auf Anhieb fasziniert. Jahre später war ich der letzte Künstler, der mit Hendrix auf der Bühne stand, zwei Tage vor seinem Tod. Die Energie, die Jimi mit seiner Gitarre auf der Bühne entfachte, war schier unglaublich. Sowas hatte nicht nur ich zuvor noch nie erlebt. Jimi riss alle mit, bei jedem Gig. Er war absolut einzigartig!“

Das hatte er bei vielen seiner großen Konzerte bewiesen, so auch beim Atlanta Pop Festival am 4. Juli 1970 vor 300.000 Fans im Örtchen Byron, 100 Meilen südlich von Atlanta. Am amerikanischen Unabhängigskeitstag war natürlich seine abgefahrene Version der Nationalhymne „Star spangled banner“ ein absolutes Highlight.

Nur einen Monat später – im August 1970 – rockte Hendrix beim Isle Of Wight Festival vor gar 600.000 (!) Zuschauern – und das auf jener kleinen Kanalinsel, die nicht mal 100.000 Einwohner zählt. Der Auftritt gehört mit Songs wie „All Along The Watchtower”, „Spanish Castle Magic”, „Foxy Lady“ und dem Bealtes-Cover „Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band” zu seinen brillantesten Live-Performances. Das Line-up des Festivals hatte es in sich: Neben Hendrix spielten u.a. The Doors, The Moody Blues, The Who, Miles Davis, Joan Baez, Jethro Tull, Emerson Lake & Palmer und Free.

Am 16. September 1970 stand Hendrix ein letztes Mal auf der Bühne – bei der bereits erwähnten Live-Performance von Eric Burdon & WAR in London. Im Ronnie Scott’s Jazz Club unterstützte Jimi seinen Freund Eric bei den letzten beiden Songs: „Blues for Memphis Slim/ Mother Earth“ und „Tobacco Road“. 36 Minuten dauerte das Gastspiel. Es war sein allerletzter Auftritt.

Ein Manifest seines Könnens

James Marshall Hendrix hat mit seinen unglaublichen Songs verschiedenster Stilrichtungen, experimentellem, innovativem Sound, extrem virtuoser Gitarrenkunst und seiner energiegeladenen, unkonventionellen Performance Millionen Fans begeistert, unzählige Musiker beeinflusst – und nicht weniger als die Welt verändert!

Die einzigartigen Live-Aufnahmen aus dem Fillmore East sind eine Sternstunde, ein Manifest des Könnens Jimi Hendrix’, des bedeutendsten Gitarristen aller Zeiten. Es bleibt nur zu erahnen, mit was dieser Ausnahmekünstler künftig noch überrascht hätte – wäre er nicht wenige Monate später, am 18. September 1970, jäh und viel zu früh aus dem Leben gerissen worden. Er bleibt unvergessen.

Jimi Hendrix Fillmore East CoverEndlich nun auf CD und Doppel-LP: „Machine Gun – The Fillmore East First Show“ ist die ungekürzte Originalaufnahme eines der wenigen Konzerte von Jimi Hendrix und der Band Of Gypsys.