Bob Dylan: „The Cutting Edge 1965-1966“ – Mäuschen spielen beim Meister
Es war die Karrierephase, die ihn zum Messias der 1960er-Jahre machte: 1965/66 nahm Bob Dylan eine Album-Trilogie auf, die den Pop für immer veränderte. Nun gibt es mit „The Bootleg Series Vol. 12: The Cutting Edge 1965-1966“ das faszinierende Entstehungsprotokoll dieser historischen Alben. Mit unveröffentlichten Songs, alternativen Versionen und Studio-Outtakes.
Text: Ernst Hofacker
Wenn je ein einzelner Mann im Alleingang den Gang der Dinge in der populären Musik verändert hat, dann war es Bob Dylan in den gerade mal 14 Monaten zwischen Januar 1965 und März 1966. Noch heute, ein halbes Jahrhundert später, verschlägt es einem den Atem, was in dieser vergleichsweise kurzen Zeitspanne alles geschehen ist.
Von der Folkikone zum elektrisierenden Rocker
Als das Jahr 1965 beginnt, ist Bob Dylan noch der Hoffnungsträger des populären Folkrevivals, ein blitzgescheiter Songwriter, der im Arbeiterhemd, mit Klampfe und Mundharmonika zornige Lieder wie „Masters Of War“ und „The Times They Are A-Changin’“ vorträgt. Dann nimmt er vom 13. bis 15. Januar unter der Regie des Columbia-Hausproduzenten Tom Wilson sein fünftes Album auf: Zwar erfüllt die Seite zwei von „Bringing It All Back Home“ mit Folkballaden wie „Mr. Tambourine Man“ und „It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding)“ die Erwartungen, die Überraschung jedoch bringt die erste Plattenseite: Sieben harte Rocksongs, darunter der aggressive Titeltrack – Dylan goes electric!
Als das Album im März erscheint, reiben sich die Folkies verdutzt die Ohren, während die Popgemeinde Dylan mit offenen Armen aufnimmt. Nach einer Englandtournee, die der Filmemacher D. A. Pennebaker zum epochalen Dokustreifen „Don’t Look Back“ verarbeitet, geht Dylan im Juni bereits wieder ins Studio. „Highway 61 Revisited“ spielt er komplett mit Band ein. Einer der ersten Songs der Sessions ist das grandiose „Like A Rolling Stone“. Während Dylan noch an „Highway 61 Revisited“ arbeitet, elektrifizieren die kalifornischen Byrds „Mr. Tambourine Man“, landen damit einen Nr.-1-Hit und erfinden auf diese Weise den Folkrock. Derweil schockt Dylan in Begleitung der Butterfield Blues Band am 25. Juli das Publikum des Newport Folk Festivals, als er seine Gitarre unter Strom setzt und seine Songs elektrisch verstärkt zum Besten gibt – die Folkelite zetert „Verrat!“. Der Vorfall wird zur identitätsstiftenden Legende der Popkultur. Kurz darauf, am 30. August erscheint „Highway 61 Revisited“, schafft es, wie schon sein Vorgänger, in die Top Ten und wirft mit „Like A Rolling Stone“ Dylans ersten Top-3-Hit ab.
Ein Mann wird zum Sprachrohr einer ganzen Generation
Auftritt The Band: Die ehemaligen Begleitmusiker des Rockabilly-Sängers Ronnie Hawkins – Robbie Robertson, Garth Hudson, Richard Manuel, Rick Danko und Levon Helm – gehen mit Dylan auf US-Tournee. 1968 werden sie als The Band selbst berühmt. Im Frühling 1966 aber sind sie noch mit Dylan in Australien und Europa. Auch dort trifft ihr Rock’n’Roll auf Widerstand, beim Konzert in der Free Trade Hall im englischen Manchester kommt es zu dem berühmten „Judas“-Zwischenruf eines Zuschauers. Dylans nunmehr siebtes Album, „Blonde On Blonde“ ist da bereits fertig. Aufgenommen zwischen Oktober und März, erscheint es im Mai 1966 – es ist das erste Doppelalbum der Popgeschichte.
Atemlose 14 Monate sind zwischen „Bringing It All Back Home“ und „Blonde On Blonde“ vergangen – danach ist die Popmusik nicht mehr dieselbe, und auch Bob Dylan ist nicht mehr derselbe. Mit seinem quecksilbrigen Starkstrom-Rock’n’Roll hat er den Crossover in den Popmarkt geschafft, der jungen Popmusik ihre Sprache geschenkt und wie ein Rattenfänger die Jugend der westlichen Welt hinter sich versammelt. „Like A Rolling Stone“, „Maggie’s Farm“, „Subterranean Homesick Blues“, „Visions Of Johanna“ und „Ballad Of A Thin Man“ – gleichsam über Nacht werden seine Songs zu Hymnen einer Generation und zu Manifesten der Gegenkultur: „Don’t follow leaders, watch the parkin’ meters!“ Selbst Beatles und Stones schauen zu Dylan auf.
Der Meister hautnah im Studio
Bis heute steht diese epochale Albumtrilogie wie ein Monument in der Kulturlandschaft der 1960er-Jahre. Ein halbes Jahrhundert danach ist der atemberaubende Entstehungsprozess der Alben nun zum ersten Mal detailgetreu nachzuvollziehen: Das in drei verschiedenen Versionen erhältliche Package „The Bootleg Series Vol. 12: The Cutting Edge 1965-1966“ bietet einen faszinierenden Einblick in die Aufnahmesessions – es ist, als würde man mit der Lupe durch des Meisters Songwerkstatt wandeln. So lässt sich die gleichermaßen mühselige wie aufregende Geburt von „Like A Rolling Stone“ in mehr als 20 Takes verfolgen, nicht weniger spannend, wie Klassiker vom Kaliber „I Want You“, „It Takes A Lot To Laugh, It Takes A Train To Cry“, „Love Minus Zero/No Limit“ und „Stuck Inside Of Mobile With The Memphis Blues Again“ nach und nach ihre endgültige Form finden.
„The Cutting Edge 1965-1966“ stellt neben Outtakes und Alternative-Versionen bekannter Tracks auch einige bislang offiziell nie veröffentlichte Songs vor. Das Spannende daran: Diese zwölfte Edition der Bootleg Series dokumentiert nicht nur akribisch genau den Entstehungsprozess einiger der bedeutendsten Songs der Rockgeschichte. „The Cutting Edge 1965-1966“ zeigt uns zudem diese entscheidende Phase in der Karriere des größten aller Songwriter und lässt uns Zeuge werden seiner faszinierenden Häutung vom Folkie zum Rocker.
Bob Dylan – The Cutting Edge 1965-1966: The Bootleg Series Vol. 12
Die Albumtrilogie ist in drei verschiedenen Editionen erhältlich: als Deluxe-6-CD-Anthology wie auch unter dem Titel „Best Of The Cutting Edge 1965-1966“ als 2-CD/3-12“-LP-Paket. Den Vogel schießt die auf 5.000 Exemplare limitierte Ultra-Deluxe-18-CD-Edition ab, sie ist exklusiv über bobdylan.com zu haben und beinhaltet buchstäblich jeden einzelnen Ton, der während der Sessions zu „Bringing It All Back Home“, „Highway 61 Revisited“ und „Blonde On Blonde“ aufgenommen wurde. Sämtliche Editionen von „The Cutting Edge 1965-1966“ sind mit ausführlichen Booklets ausgestattet, der Deluxe-Variante ist ein Hardcover-Buch beigelegt. Zu lesen gibt es darin Liner Notes von Bill Flanagan und Sean Wilentz und zu sehen Hunderte von seltenen Fotos und Abbildungen zeitgenössischer Memorabilia.
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