The Kinks: Der leise Abschied
1993 erschien das letzte Studioalbum der Kinks. Seinerzeit weitgehend überhört, wird „Phobia“ nun wiederveröffentlicht – und siehe da: Es offenbart einige der schönsten Songs aus der Spätphase der Erfinder von „You Really Got Me“ und „Lola“…
Text: Ernst Hofacker
Als „Phobia“ nach zweijährigen Geburtswehen am 29. März 1993 endlich in den Läden stand, ahnten weder Ray Davies & Co. noch die treuesten Fans der legendären Kinks, dass dieses Album nach drei Jahrzehnten den Abschied der Band markieren sollte. Zwar vollzog sich der in Raten, aber das Ende war zu diesem Zeitpunkt noch kaum aufzuhalten. Tatsächlich folgte mit „To The Bone“ (1994/96) noch ein Livealbum, das sogar zwei neue Songs enthielt, und ebenso gaben die Kinks noch bis zum Sommer 1996 Konzerte. All dies aber geschah fast schon unter Ausschluss der Öffentlichkeit, vom Radar des aktuellen Popbetriebs war die Band da längst verschwunden.
Dabei hatte es Mitte der 1980er Jahre durchaus noch nach einer gesunden Gegenwart und einer vielversprechenden Zukunft ausgesehen. Mit Hits wie „Come Dancing“ und „Don’t Forget To Dance“ hatten sich die Kinks nach Jahren der Flaute in den Hitparaden zurückgemeldet, und ihre Tourneen verliefen ohnehin erfolgreich wie eh. Der erste Bruch jedoch geschah im Jahr 1984, als Gründungsmitglied und Drummer Mick Avory die Band nach 20 gemeinsamen Jahren verließ, weil er sich die andauernden Streitereien mit Dave Davies nicht mehr antun wollte. Bruder Ray kommentierte das später einmal so: „Danach war die Band nicht mehr dieselbe.“
Die Kinks geraten aus der Mode
Wenig später, im Sommer 1985, wurden die Kinks zum gigantischen Live-Aid-Festival nicht eingeladen. Praktisch jeder, der dort auftrat, verdankte dem Spektakel einen kräftigen Karriereschub, nicht so Ray Davies & Co. Im selben Jahr lief der Vertrag mit dem Arista-Label aus, und die Band wechselte zu MCA. Eine Paarung, die von vornherein unter keinem guten Stern stand. Die folgenden Alben „Think Visual“ (1986) und „UK Jive“ (1989) floppten trotz potenter Singles wie „Lost And Found“, „How Are You“ und „Down All The Days (Till 1992)“.
Frustriert verließen die Davies-Brüder MCA und starteten mit Columbia Records in die 1990er-Jahre. Aber auch diesmal lief schief, was schieflaufen konnte. Mangels Promotion lag die 1991 veröffentlichte EP „Did Ya“ wie Blei in den Regalen. Dazu erlitt der damalige Kinks-Manager Nigel Thomas einen Schlaganfall, und als das neue Album „Phobia“ endlich fertig war, war das Verhältnis zwischen dem ebenso sprunghaften wie sensiblen Ray Davies und den Verantwortlichen bei Columbia bereits so zerrüttet, dass an eine vernünftige Zusammenarbeit nicht mehr zu denken war.
Das finale Augenzwinkern von Ray Davies
Das Ergebnis: „Phobia“ schaffte es für gerade mal eine Woche in die US-Albumcharts – auf Platz 166. Im Rest der Welt, inklusive England, wurde die Platte gleich ganz überhört. Dabei bot sie mit der bewährten Kinks-Mischung aus Hardrock, Popballaden und Davies’ sarkastischen Texten jede Menge lohnende Songs, allen voran das nachdenkliche „Still Searching“, der mitreißende Titeltrack, das augenzwinkernde Brüder-Duett „Hatred (A Duet)“ und das wehmütige „The Informer“.
Ausgerechnet zu einer Zeit, als die Protagonisten des aufkommenden Britpop-Revivals, allen voran Damon Albarn (Blur) und Noel Gallagher (Oasis), Ray Davies öffentlich und unisono zum Gottvater des englischen Popsongs erklärten und den Klassikern der Kinks auf diese Weise neue Aufmerksamkeit verschafften, interessierte sich für die aktuelle Band kein Mensch mehr. Ihre Zeit war abgelaufen. Und Hand aufs Herz, zwischen dem Grunge-Lärm, R&B-Balladenkitsch und Techno-Hedonismus jener Tage wirkte die feine Songkunst der Kinks in der Tat ein wenig verloren. Die Davies-Brüder nahmen’s zur Kenntnis und kümmerten sich fortan um Soloprojekte.
Auch wenn die Kinks nach ihrem letzten Konzert am 15. Juni 1996 bei Oslo nie offiziell aufgelöst wurden, die Anekdote, die Drummer Bob Henrit dem Biografen Nick Hasted einmal von einem der letzten Konzerte erzählte, spricht Bände: „Ray drehte sich eines Abends auf der Bühne zu mir um und fragte: ‚Wo sind bloß die guten Zeiten hin?’ (where have all the good times gone?, so lautet der Titel eines alten Kinks-Hits, Anm. d. Red.), und ich sagte: ‚Ich weiß es nicht, Ray’. Er wollte mir nur den nächsten Song ansagen. Aber er formulierte es als Frage. Und es war keine, die mich überraschte.“
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Die Wiederveröffentlichung von „Phobia“ reiht sich in mehrere Jubiläums-Releases zum 50-jährigen Bestehen der Kinks ein: Neben dem wunderbaren Boxset „The Anthology 1964-1971“, der Digital-Compilation „Classics – The Best Of The Kinks“ und der Expanded Edition ihres grandiosen 1970er-Albums „Lola Versus Powerman And The Moneygoround, Part One“ mit unveröffentlichten Bonustracks ist auch „Phobia“ als letztes reguläres Studioalbum der Urväter des Britpop eine Perle für Fans.
Das komplette Tracklisting:
1. Opening
2. Wall Of Fire
3. Drift Away
4. Still Searching
5. Phobia
6. Only A Dream
7. Don’t
8. Babies
9. Over The Edge
10. Surviving
11. It’s Alright (Don’t Think About It)
12. The Informer
13. Hatred (A Duet)
14. Somebody Stole My Car
15. Close To The Wire
16. Scattered
17. Did Ya (Bonus)
WEITERLESEN: The Kinks – die Definitive Anthology