JOHNNY CASH: EINFACH WÄHRT AM LÄNGSTEN
Eine neue Doppel-CD mit Live-Raritäten gibt einen Überblick über Johnny Cashs Karriere als Bühnenkünstler. Dabei zeigt sich, dass ein relativ schmales Fundament genügte, um Cash seine Höhenflüge zu ermöglichen. Fast der einzige, bei dem der Funke nicht übersprang, war ein US-Präsident.
Von Johannes Waechter
Wenn weniger mehr ist: Johnny Cash & The Tennessee Two. Der Gitarrist Luther Perkins und der Bassist Marshall Grant prägten den simplen Sound, mit dem Cash Zeit seines Lebens unterwegs war.
Zu den vielen Dingen, die mich an Johnny Cash faszinieren, gehört die Tatsache, wie weit er mit einem relativ simplen Sound gekommen ist. Über 40 Jahre stand er auf der Bühne, aber man kann nicht sagen, dass er seinen Live-Klang in dieser Zeit entscheidend verändert hätte. Der “Boom-Chicka-Boom”-Sound, den er Mitte der Fünfziger mit Luther Perkins und Marshall Grant entwickelte, war bis in die Neunziger das Fundament seiner Shows, und mit W.S. Holland und Bob Wootton waren auch damals noch zwei Musiker dabei, die schon seit den Sechzigern mit Cash spielten. Bei vielen anderen Künstlern hätte das wahrscheinlich zu galoppierender Langeweile geführt, aber Cash hatte als Frontmann und Sänger so viel Präsenz und so viel Charisma, dass sein Konzept bis zum Schluss funktionierte.
Mehrere Live-Alben dokumentieren diese Qualitäten: vor allem natürlich die Aufnahmen aus den Gefängnissen in Folsom und San Quentin. Noch besser gefällt mir allerdings das Album At Madison Square Garden, das 1969 aufgenommen, aber erst 2002 veröffentlicht wurde. Eine neue Doppel-CD mit rarem Live-Material gibt nun Gelegenheit, intensiver in die Materie einzusteigen und ganz genau nachzuverfolgen, wie sich Cash auf der Bühne veränderte, oder eben nicht.
Bootleg Vol. III: Live Around The World (Sony) enthält 53 Tracks, die zwischen 1956 und 1979 aufgenommen wurden. Mehrere historisch bedeutsame Konzerte sind dabei: Cashs Auftritt beim Newport Folk Festival 1964, als er eine Brücke zwischen Folk und Country schlug und zusammen mit Bob Dylan eine Kissenschlacht im Hotelzimmer veranstaltete; sein Auftritt vor US-Soldaten auf einer Truppenbasis in Vietnam; und vor allem sein Auftritt im Weißen Haus vor US-Präsident Nixon, ein faszinierenes und irgendwie auch gruseliges Tondokument.
Das Konzert beginnt mit einer länglichen Einleitung des Präsidenten, in dem dieser ununwunden zugibt, von Johnny Cash und seiner Musik keine Ahnung zu haben. Diese Worte verleiten Cash, der ja sonst ziemlich unerschütterlich war, zu einer sehr gedämpften Performance in Zimmerlautstärke, bei der Gospel-Songs ein deutliches Übergewicht haben. Nach der Hälfte der Songs fühlt er sich sogar bemüßigt, ein Gedicht namens “What Is Truth” vorzutragen, das er der Jugend von Amerika widmet. Doch die ist nicht eingeladen, und die alten Leute im Publikum reagieren eher reserviert. So bleibt das Weiße Haus einer der wenigen Auftrittsorte, an dem Cash seine Magie nicht entfalten konnte.
Ganz anders in Vietnam. Die Soldaten dort sind sichtlich ausgehungert nach Live-Entertainment und feiern Cash und seine Truppe mit Ovationen. Generell kann man sagen, dass die Jahre Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger nicht nur kommerziell, sondern auch bezüglich seiner Live-Qualitäten die stärkste Periode in Cashs Karriere waren. Der “Boom-Chicka-Boom”-Sound dominierte natürlich auch hier, doch machten Carl Perkins an der zweiten Gitarre und vor allem die Statler Brothers als Backgroundsänger diesen sparsamen Sound ein bisschen fleischiger.
Im Licht der Aufnahmen auf den beiden CDs erscheint Johnny Cash als Künstler, der sich über all die Jahre treu geblieben ist. Wichtiger als musikalische Spirenzchen war ihm, mit seinem Publikum in Verbindung zu treten und seine Botschaft rüberzubringen. Diese Botschaft war ebenso vielschichtig wie seine Persönlichkeit: Patriotismus, Traditionsbewusstsein und Religiösität gehörten ebenso dazu wie Sympathie für die Armen und Außenseiter, rebellischer Humor und ein Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit. Diese emotionale Ehrlichkeit sprach sein Publikum in der Regel an — außer, wenn es sich beim Publikum um Richard Nixon handelte. Denn wenn es eines gibt, was der Watergate-Präsident sicherlich nicht hatte, dann war das ein Bewusstsein der eigenen Schwäche.
Fotos: Sony Music
Hier noch ein legendärer Cash-Auftritt, der ebenfalls der Wiederentdeckung harrt: Der Mann in Schwarz 1983 bei “Wetten, dass..?”
Johannes Waechter, 1969 geboren, stammt aus Berlin und war Mitte der Neunziger Musikredakteur der Berliner Stadtzeitschrift Zitty. Seit 1999 ist er Redakteur beim SZ-Magazin, wo er in den Jahren 2005 und 2006 zusammen mit Philipp Oehmke die Süddeutsche Zeitung Diskothek herausgegeben hat, eine 52-bändige Buch/CD-Reihe zur Geschichte der Popmusik. In diesem Blog geht es nicht nur um das derzeitige Popgeschehen, sondern vor allem um den großen Zusammenhang zwischen vergangener und aktueller Musik, inspiriert von Bob Dylans Worten: “It’s always good to know what went down before you, because if you know the past, you can control the future”.