Feb
23
2011

DER SOULSÄNGER CHARLES BRADLEY IM INTERVIEW

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“Mein Leben ist ein einziger Überlebenskampf”: Charles Bradleys Geschichte ist ein modernes Märchen. Nach Jahrzehnten der Armut und Obdachlosigkeit hat er mit 62 nun sein Debütalbum veröffentlicht. No Time For Dreaming ist eine der besten Soulplatten der letzten Jahre, dennoch kann sich Bradley nicht darüber freuen. 

Von Johannes Waechter

Mehr noch als bei anderen Stilen kommt es bei der Soulmusik auf die persönliche Erfahrung an. Wenn der Sänger von Schmerz und Erlösung erzählt, dann wirkt das am überzeugendsten, wenn er sich auf eigene Erlebnisse bezieht oder wenn diese Beichte in den gemeinsamen Erfahrungsschatz der afro-amerikanischen US-Bevölkerung eingebunden ist. Das weiß kaum jemand besser als die Jungs von Daptone Records in Brooklyn, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Soul und Funk als Live-Musik am Leben zu halten und wieder in Hipster-Zirkeln populär zu machen.

Die Grooves von James Brown und Aretha Franklin lassen sich dabei noch vergleichsweise leicht nachspielen (obwohl auch hier die Klasse der Originalmusiker nie erreicht wird). Haarig ist es jedoch bei den Sängern. Aus weißen Mittelklasse-Kids können keine Soulsänger werden (von Eli “Paperboy” Reed mal abgesehen), und so hat man sich bei Daptone darauf spezialisiert, unbekannte afro-amerikanische Sängerinnen und Sänger zu Stars zu machen. So gelang es bei Sharon Jones und Lee Fields, nächster Daptone-Debütant ist nun Charles Bradley.

Bradley ist ein Deep-Soul-Sänger, der den rauen Ton von James Brown und Joe Tex mit der nihilistischen Weltsicht von O.V. Wright und James Carr verbindet. Er wurde 1948 geboren und hat Aufstieg und Fall der Soulmusik persönlich miterlebt. Grundlage seiner Songs sind die vielen unerfreulichen Erfahrungen, die er in seinem Leben machen musste. Bradley hat seit 2002 Singles auf Daptone veröffentlicht, nun ist unter der Ägide von Thomas Brenneck (Menahan Street Band) sein erstaunliches Debütalbum No Time For Dreaming (Dunham/Daptone/Groove Attack) entstanden.

Charles Bradley, mit 62 haben Sie gerade Ihr Debütalbum No Time For Dreamingveröffentlicht. Lassen Sie uns zuerst aber kurz über Ihr früheres Leben reden, ok? 

Ja, ok. Es ist hart für mich, aber wir können darüber reden. Fragen sie nur.

Stimmt es, dass Sie als Jugendlicher auf der Straße gelebt haben?

Ja, die Straße war mein Zuhause. Ich bin die ganze Nacht durch die Stadt gelaufen, auf der Suche nach einem Schlafplatz. Ich habe mich in Toilettenkabinen eingeschlossen, nur um nicht zu erfrieren, oder irgendwo im Gebüsch geschlafen. Bis die Polizei kam und mich vertrieben hat. Weil ich so viel im Leben gesehen habe, bin ich heute gerne allein. Bei dem Schmerz, den ich ertragen musste, kann ich froh sein, noch am Leben zu sein.

Wie kam es zu diesem schlimmen Schicksal? 

Ich hatte eigentlich keine Kindheit. Mein Leben ist ein einziger, langer Überlebenskampf. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, mit vierzehn bin ich von zu Hause abgehauen. Seitdem bin ich allein. Das, was ich durchgemacht habe, wünsche ich ich niemanden. Oft habe ich geschrien und geweint und Gott gefragt, was ich falsch gemacht habe. Denn wenn ich etwas falsch gemacht hätte, hätte ich verstehen können, dass Gott mich so bestraft. Aber ich habe nichts falsch gemacht. Ich habe versucht, auf ehrliche Weise zu überleben.

Hat sie das ärgerlich gemacht? 

Oh ja. In mir steckt viel Ärger. Aber dank meines Glaubens an Gott ist mein Geist immer demütig geblieben. Meine Großmutter hat einmal zu mir gesagt: Sohn, Jesus hat gelitten und auch du wirst in deinem Leben leiden müssen. Ich habe geantwortet: Großmutter, Jesus ist mit 33 gestorben – und ich leide immer noch.

Wie sind Sie mit der Musik in Kontakt gekommen? 

Musik war immer in meinem Leben. Als Kind bin ich in die Mount Carmel Church in Gainesville, Florida gegangen. Damals konnte wir nicht das sagen, was uns beschäftigt hat, weil man uns bestraft hätte. Wir konnten das nur in der Musik rauslassen, im Gesang.

Gab es einen Künstler, der Sie besonders beeindruckt hat? 

Ich war immer großer Fan von James Brown. Als ich 14 war, habe ich ihn im Apollo in Harlem gesehen. Da wusste ich, das will ich auch machen. Wenn ich seine Songs singe, fühle ich, wie meine Seele zu seinem Geist Verbindung aufnimmt. Aber jetzt singe ich meine eigenen Songs, damit die ganze Welt erfährt, was Charles Bradley in seinem Innern fühlt, all den Schmerz, die Verletzungen, die sich in mir aufgestaut haben.

Hatten Sie außer James Brown noch andere Helden? 

Ich mag Otis Redding sehr gern. Aber auch Sängerinnen wie Aretha Franklin, Diana Ross und Barbra Streisand. Und Tyrone Davis. Ich liebe den funky beat, der von tief unten in der Seele kommt.

Nachdem Sie dank eines Hilfsprogramms von der Straße runtergekommen sind, haben Sie lange als Koch gearbeitet, oder? 

Ja, über dreißig Jahre lang. Ich kann dir alles kochen, was du essen möchtest. Ich habe koscheres Essen gekocht, spanisch, italienisch, Soul Food. Das sind eigentlich immer dieselben Zutaten, nur die Gewürze sind unterschiedlich.

Haben Sie während dieser Zeit beständig davon geträumt, den Durchbruch als Musiker zu schaffen? 

Wenn ich nicht am Herd stand, stand ich auf der Bühne und bin mit irgendwelchen Bands aufgetreten. Es war immer mein Traum, einmal als Sänger Erfolg zu haben.

Erstaunlich, dass Sie sich nicht haben entmutigen lassen! 

Ich war Koch in einem Club in San Francisco, als James Brown dort aufgetreten ist. Hinter der Bühne konnte ich kurz mit ihm reden. Er sagte zu mir: Junger Mann, ich sehe, dass du Talent hast. Ich habe gesagt: Dann gib mir eine Chance und nimm mich mit auf die Bühne. Er hat geantwortet: Das hier ist meine Show, da kannst du nicht mitmachen. Aber ich gebe dir folgenden Rat: Wenn es dir wirklich ernst ist, wenn du wirklich genug Energie und Selbstvertrauen hast, dann gehe zurück nach New York und versuche dort es dort. Das habe ich getan.

Unter dem Namen “Black Velvet” sind Sie lange mit einer James-Brown-Tributshow aufgetreten. 

Sogar an dem Abend, als er gestorben ist! Ich kam um fünf Uhr morgens nach Hause, um sechs rief mich ein Freund an und sagte: Mach den Fernseher an, dein bester Freund ist tot. Als ich die Nachricht im Fernsehen gesehen habe, habe ich geweint. Dann habe ich mich angezogen und bin nach Harlem gefahren, zum Apollo. Die Schlange der Trauernden war bereits sechs Blocks lang. Ich habe mich hinten angestellt, aber sie haben gesagt: Nein, Charles, du musst nach vorne gehen. Also stand ich ganz vorne und habe sogar Leute aus seiner Familie kennengelernt. Sie wollten, dass ich zu seiner Beerdigung nach Georgia fahre, aber dazu kam es nicht.

Wie sind Sie mit Thomas Brenneck von der Menahan Street Band zusammengekommen, der nun Ihr Album produziert hat? 

Ich kenne Tommy schon seit elf Jahren, da hat er noch in Staten Island gewohnt. Ich bin mal rübergefahren, um mit ihm und seiner Band zu jammen. Ich habe gesagt, spielt einfach los, mir werden schon Texte einfallen. Die waren echt funky! Das ist schon ein paar Jahre her, aber wir sind in Kontakt geblieben und haben jetzt das Album zusammen aufgenommen.

Hört man Ihr Album No Time For Dreaming, wird man mit einer recht düsteren Weltsicht konfrontiert.

Die Texte handeln von den Dingen, die ich in meinem Herzen fühle. “How long must I keep going on” – das ist die einzige Frage, die ich an die Welt habe, seit ich drei Jahre alt war. Ich versuche immer noch, meinen Weg zu finden.

Dennoch dürfte mit der Veröffentlichung des Albums für Sie ein Traum wahr geworden sein.

Das ist wunderbar, aber es macht mir auch Angst. Denn das schlimmste ist, wenn du verrückt vor Freude bist und dir dann der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Ich gestatte mir also nicht zu viel Freude, denn ich will nicht mehr verletzt und enttäuscht werden. Ich genieße das, was ich tue, ich treffe positive Menschen, ich warte ab, was passiert. Ich bete zu Gott und sage, danke Herr, für das, was du mir gegeben hast. Aber es wird noch lange dauern, bis ich mich wirklich freuen kann. Bis dahin steige ich weiter den Berg empor.

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Johannes Waechter, 1969 geboren, stammt aus Berlin und war Mitte der Neunziger Musikredakteur der Berliner Stadtzeitschrift Zitty. Seit 1999 ist er Redakteur beim SZ-Magazin, wo er in den Jahren 2005 und 2006 zusammen mit Philipp Oehmke die Süddeutsche Zeitung Diskothek herausgegeben hat, eine 52-bändige Buch/CD-Reihe zur Geschichte der Popmusik. In diesem Blog geht es nicht nur um das derzeitige Popgeschehen, sondern vor allem um den großen Zusammenhang zwischen vergangener und aktueller Musik, inspiriert von Bob Dylans Worten: “It’s always good to know what went down before you, because if you know the past, you can control the future.”.