Jul
4
2014

Essay: Die knallbunten 2000er

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Facebook & Co.: Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Elvis präsentiert sich Pop als ein komplexes Entertainment- und Lifestyle-System mit unterschiedlichsten Musik- und Modestilen. Popkultur vereint Retro und Moderne, lebt in sozialen Netzwerken und fungiert als Durchlauferhitzer an der Nahtstelle zwischen Avantgarde und Kommerz.

von Ernst Hofacker

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Zum Millennium brechen die Plattenumsätze ein, die Konsumenten ziehen ihre Musik aus dem Netz, und die Musiker besinnen sich auf ihr Kerngeschäft – das Konzert. Folglich erlebt das Live-Business im neuen Jahrhundert einen erstaunlichen Boom. Großveranstaltungen wie das deutsche Zwillingsfestival Rock am Ring/Rock im Park melden Besucher- und Umsatzrekorde in Serie. Wobei der Spaß nicht billig ist: Ein Kombiticket für die 3-Tage-Sause am Nürburgring kostet im Jahr 2014 knapp 215 Euro.

Das Live-Geschäft boomt

Die deutsche Konzertbranche erlebt zwischen 1995 und 2007 eine Umsatzsteigerung von 18 Prozent, der Jahresumsatz liegt mit 2,9 Milliarden Euro fast doppelt so hoch wie jener der deutschen Tonträgerindustrie. In den USA werden im Boom-Jahr 2008 laut Branchenblatt Billboard Konzerttickets im Wert von rund vier Milliarden Dollar verkauft.

Die größten Zugnummern im Konzertgeschäft sind nach wie vor auch die größten im Tonträger- und digitalen Musikbusiness. Neben bewährten Schlachtrössern wie Bruce Springsteen, Madonna, Robbie Williams und U2 garantieren neue Namen wie Rihanna, Alicia Keys, Lady Gaga, Eminem und Beyonce die höchsten Umsätze. Das Revier der Jungen ist dabei ein Pop-Mainstream, der nun von einem Hybriden aus HipHop, R&B und Dance Pop dominiert wird. Platz bietet er überdies auch für gelegentliche Ausbrecher in Metal-Gefilde (Metallica, Korn), Alternative (Fleet Foxes, Arcade Fire, Foo Fighters) und Roots-Rock á la Black Keys und Jack White oder gar Folk & Country, wie Mumford & Sons und die Dixie Chicks beweisen. Nicht zu vergessen zudem die Veteranen, die nach inzwischen fünf Dekaden Pop noch übrig und aktiv sind.

Alles kann, nichts muss

Der HipHop hat seine noch in den 1990ern dominierende Strömung eingebüßt, jetzt mäandert er allgegenwärtig durch R&B und Neo-Soul, ja, sogar Metal und Rock, und erscheint als kraftvolle Farbe in unterschiedlichsten weiteren musikalischen Milieus – ein Kennzeichen für die ganze Dekade.

Überhaupt gilt: Alles geht, jeder kann mit jedem, und nichts ist unmöglich. Die Musikszene der 2000er Jahre ist ein kaum noch zu entschlüsselndes Sammelsurium unterschiedlichster Genres und Subgenres, das sich in einer einzigen rasenden Spirale aus Revivals und neuen Trends zu drehen scheint. Die Etiketten scheinen fast so zahlreich wie die Künstler.

Auch die gebeutelte Musikindustrie, deren Zukunft im neuen Jahrtausend zunächst alles andere als rosig erscheint, erholt sich und findet sich in einer veränderten Konsum- und Medienstruktur zusehends zurecht. Zum neuen Big Player im Business wird dabei der 1976 in Kalifornien gegründete Apple-Konzern. Mit dem Abspielgerät iPod, der dazugehörigen iTunes-Software und dem Online-Store iTunes schafft Apple ein eigenes System, das ab 2001 schrittweise den Markt revolutioniert. Andere Hersteller ziehen nach, der digitale Handel verzeichnet zweistellige Zuwachsraten, überdies ermöglichen Streaming-Dienste wie Spotify neue Formen des Musikkonsums. Kein Wunder, dass MusikerInnen wie die Isländerin Björk mit der Produktion aufwendiger Apps ihre Alben aufwerten, soziale Netzwerke wie Facebook nutzen und so nach neuen Wegen für ihre Kunst und zu ihrer Kundschaft suchen.

Renaissance der Gummirille

Dass ausgerechnet das gute alte Vinyl in der Gegenwart eine erstaunliche Renaissance erlebt, wundert dennoch nicht und darf als Indiz auch für eine zunehmende Verweigerung des Innovationsdiktats unserer Medienkultur gelten – in der Postmoderne ist das Alte das Neue und das Neue schneller alt als es erfunden wird. Da passt es nur ins Bild, dass analoge Aufnahmetechnik wie zu Elvis’ Zeiten plötzlich wieder hip und kaum etwas schneller rum ums Eck ist als die Casting-Retortenstars aus den Reagenzgläsern der Medienindustrie.

Übersicht Albumperlen: 50er bis 2000er

 

Keys

Alicia Keys
Songs In A Minor, 2001
Der legendäre Plattenmogul Clive Davis hatte die New Yorkerin entdeckt und behutsam aufgebaut. Als ihr Debüt Songs In A Minor dann im Jahr 2001 erschien, schlug es ein wie eine Bombe, lieferte den Megahit „Fallin’“ und verkaufte sich millionenfach. Alicia Keys (*1981) hielt, was ihr Debüt versprach, und veröffentlicht konstant hochklassige Alben, zuletzt das Grammy-gekrönte Girl On Fire (2012).

Lesen Sie hier den Legacy-Beitrag Alicia Keys: A-Moll deluxe

Cash

Johnny Cash
Bootleg 1 (Personal File), 2011
2006 startete Columbia/Legacy die inzwischen auf vier Ausgaben angewachsene „Bootleg“-Serie mit Personal File, einer Sammlung privater Aufnahmen, die Johnny Cash (1932-2003) zwischen 1973 und 1982 daheim in Hendersonville, Tennessee, eingespielt hatte. Für Aufsehen sorgte 2014 die Veröffentlichung des posthumen Albums Out Among The Stars mit Aufnahmen von 1981/84, die bislang als verschollen galten.

Lesen Sie hier den Legacy-Beitrag Johnny Cash: Verschollenes Album entdeckt

Springsteen

Bruce Springsteen
The Rising, 2002
„Wir brauchen dich, Bruce“, soll ein Fan Bruce Springsteen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gesagt haben. Der Boss ließ sich nicht lumpen und verarbeitete auf The Rising mit eindringlichen Songs wie dem Titeltrack, „Into The Fire“ und „My City Of Ruins“ die traumatischen Ereignisse. Für Alt-Fans gab es 2010 mit The Promise ein Album mit Outtakes der „Darkness“-Sessions von 1977/78.

Lesen Sie hier den Legacy-Beitrag Bruce Springsteen: Fundgrube für Fans

Taylor

James Taylor
October Road, 2002
James Taylor (*1948) gilt als Prototyp des sanften Troubadours und leiser Chronist der Baby-Boomer-Generation. Sein bislang letztes Studioalbum mit neuen Songs, October Road, erschien 2002 und gehört zu den schönsten Arbeiten des Amerikaners. Empfehlenswert auch Best Live, eine Zusammenstellung von Taylors größten Hits („Fire And Rain“, „You’ve Got A Friend“ u. a.) in packenden Live-Versionen.

Lesen Sie hier den Legacy-Beitrag Happy Birthday, James Taylor

Zaz

Zaz
Recto Verso, 2013
Mit ihrer betörend vitalen Mischung aus Jazz, Chanson und Pop zählt die 1980 im französischen Tours geborene Zaz zu den schillerndsten Figuren der aktuellen europäischen Popszene. Gleich mit ihrem ersten Album Zaz (2010) und der Single „Je Veux“ war ihr ein Volltreffer gelungen, das zweite Album Recto Verso (2013) zeigte die Sängerin gereift und kletterte in Deutschland bis auf Platz zwei.

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Bennett

Tony Bennett
Duets: An American Classic, 1997
Gegen ihn sind die Rolling Stones Frischlinge, und am Start war er schon vor Elvis Presley: Was Tony Bennett (*1926) nicht daran hinderte, 2006 als 80-Jähriger mit einem Duett-Album, bei dem Promis wie Barbra Streisand, Elton John und Elvis Costello mitwirkten, noch einmal die Charts aufzumischen. Nicht zum letzten Mal: Duets II von 2011 (u. a. mit Amy Winehouse) wurde gar noch erfolgreicher.

Lesen Sie hier den Legacy-Beitrag Tony Bennett: Der Klassiker

Cohen

Leonard Cohen
Live In London, 2009
Fünf Jahre hatte er als Mönch gelebt und dann entdeckt, dass sein Manager sein Vermögen veruntreut hatte. 2007, 40 Jahre nach seinem Debüt Songs Of, startete Leonard Cohen (*1934) eine zweijährige Welttournee, um Geld zu verdienen – ein künstlerischer Triumph, der auf Live In London festgehalten ist und den besten Lyriker der Popgeschichte als stillen Giganten zeigt, der sein Publikum begeistert.

Lesen Sie hier den Legacy-Beitrag Leonard Cohen: Das komplette Paket

Smith

Patti Smith
Banga, 2012
Fast vier Jahrzehnte nach ihrem spektakulären Debüt Horses (1975) gilt Patti Smith als Mutter Courage des Punk und als eine der bedeutendsten Songpoetinnen Amerikas. Mögen ihre neueren Werke wie zum Beispiel Banga (2012) im Ton auch nicht mehr ganz so scharf sein, die Lyrics ihrer Songs sind noch immer von einzigartiger Präzision, kluger Weltsicht und bei Bedarf heiligem Zorn geprägt.

Lesen Sie hier den Legacy-Beitrag Patti Smith: Banga

Earth

Earth, Wind & Fire
Now, Then & Forever, 2013
Im Jahr 2013, 42 Jahre nach der Bandgründung, gelang Earth, Wind & Fire ein beeindruckendes Comeback: Auf Now, Then & Forever aktualisierte die Gruppe ihren eleganten Big-Band-R&B, ohne sich dabei an die Moderne anzubiedern. Für Fans der klassischen EWF-Periode: Die wichtigsten Alben von Maurice White, Philip Bailey & Co. sind in der Boxset-Serie Original Album Classics zusammengefasst.

Lesen Sie hier den Legacy-Beitrag Earth, Wind & Fire mit neuem Album

Guy

Buddy Guy
Rhythm & Blues, 2013
Er ist einer der letzten Originale des Chicago Blues: Buddy Guy (*1936) inspirierte schon die erste Generation britischer Rockgitarristen wie Eric Clapton, Keith Richards und Jimmy Page. 2013 überraschte der Veteran mit dem vitalen und vielseitigen Lebenszeichen Rhythm & Blues, das es sogar auf Platz eins der US-Blues-Charts schaffte. Für Living Proof (2010) gewann Guy zudem einen Grammy.

Lesen Sie hier den Legacy-Beitrag Buddy Guy: Bluesdaddy aus Chicago