Feb
10
2016

Loretta Lynn: Rückkehr einer Legende

Loretta Lynn_Full Circle_Cover

Für Country-Fans, und nicht nur für die, ist es eine Sensation: Elf Jahre nach ihrer Grammy-gekrönten Zusammenarbeit mit Jack White („Van Lear Rose“) kehrt Loretta Lynn mit einem neuen Album zurück: „Full Circle“ erinnert nachdrücklich daran, dass die Lady aus Nashville zu den bedeutendsten Künstlerinnen der US-Musikszene zählt.

Text: Ernst Hofacker

Als die damals bereits 72-Jährige Country-Ikone Loretta Lynn und der fast ein halbes Jahrhundert jüngere Alternative-Rocker Jack White (The White Stripes) 2004 zusammen das Album „Van Lear Rose“ aufnahmen, mag das für viele eine Überraschung gewesen sein. Bei näherer Betrachtung jedoch war diese Kollaboration die natürlichste Sache der Welt, und sie verriet mehr über amerikanische Musik, als hundert Bücher es gekonnt hätten: Tradition und Moderne gehören dort, auch stilübergreifend, zusammen.
Wer sich – wie Jack White – mit Countrymusik beschäftigt, stellt schnell fest, dass dieses Genre sehr viel mehr zu bieten hat als glattpolierte Schlagermucke made in Nashville. Und er stößt auf Loretta Lynn. Wie kaum eine andere steht die Sängerin für die pure, die ursprüngliche und ungeschminkte Idee der Countrymusik: Red’ nicht drum ’rum, sag wie’s ist, und färb’ die Dinge nicht schöner, als sie sind.

Heimelige Studioatmosphäre mit Freunden und Familie

Nachzuhören ist das auch auf „Full Circle“, dem nunmehr 55. (!) Studioalbum von Loretta Lynn. Aufgenommen wurde es auf vertrautem Terrain, nämlich im Cash Cabin Studio in Hendersonville, Tennessee, dort also, wo Johnny Cash mit Ehefrau June Carter gelebt hat – beide enge Freunde von Loretta Lynn. Betreut wurden die Aufnahmen von Cashs Sohn John Carter Cash sowie Lynns Tochter Patsy Lynn Russell, ihres Zeichens selbst eine erfolgreiche Countrysängerin. Familiärer hätten dieLoretta_Lynn_B&W331-Credit-Erin-Turner-sw Sessions also nicht sein können. Folglich hat „Full Circle“ auch viel von einem entspannten Nachmittag auf der heimischen Veranda. Auf überflüssigen Zuckerguss wie Streicherarrangements und Popelemente, etwa in Gestalt synthetischer Klangerzeugung, wurde dabei verzichtet. Einmal mehr vertraute Lynn stattdessen auf das Reinheitsgebot ihrer tief im ursprünglichen Bluegrass, im simplen Honky Tonk ihrer Jugend und im Appalachen-Folk ihrer Heimat Kentucky verwurzelten Musik.

So geriet „Full Circle“ zur vollkommen zeitlosen, vorwiegend akustisch gehaltenen Reise durch Lynns musikalische Geschichte, frei von modischem Tand ebenso wie von gemütlicher Nostalgie. Zu den Highlights unter den 13 Tracks zählen neben Neueinspielungen ihrer alten Hits („Everybody Wants To Go To Heaven“, „Fist City“), Genre-Standards („Always On My Mind“) und Folkklassikern wie „Black Jack David“ auch neue, speziell für dieses Projekt geschriebene Songs, darunter zwei wunderbare Duette: „Everything It Takes“, das Lynn gemeinsam mit Todd Snider komponierte und hier mit Elvis Costello singt, sowie die Ballade „Lay Me Down“ (mit Willie Nelson).

Loretta Lynn singt mit John Carter Cash „In The Pines“:

Countrymusik als Lebensphilosophie

Wer all das in seiner aufrichtigen Gradlinigkeit und unverfälschten Emotionalität hört, weiß: Loretta Lynn singt nicht nur Country, sie ist Country. Und das seit über einem halben Jahrhundert. Von den ersten selbstgeschriebenen Songs, die sie zu Beginn der 1960er-Jahre aufnahm, über ihre großen Hits wie „Fist City“, „You Ain’t Woman Enough“ und „Coal Miner’s Daughter“ bis hin zu den großartigen Tracks von „Full Circle“ pflegte und pflegt sie einen resoluten Realismus, der erstmals in der Countrymusik auch feministische Positionen artikulierte. Was bei ihr im übrigen weniger mit politischen Bewegungen und Positionen zu tun hatte, Lynns Haltung erwuchs aus der Lebenserfahrung einer aus bescheidensten Verhältnissen stammenden Frau, die ihre Karriere erst mit etwas über 30 Jahren begonnen, bis dahin aber bereits sechs Kinder bekommen hatte und seit 15 Jahren mit dem Mann verheiratet war, mit dem sie ein Leben lang zusammenbleiben sollte. Bodenständiger geht’s nicht.

 Lorettawithguitar60s Courtesy of Loretta Lynn ArchivesVon der frühen Rebellin zum Star ohne Allüren

In den 1960er und 1970er-Jahren war Loretta Lynnn einer der umsatzstärksten Stars der Countryszene, vereinnahmen ließ sie sich dennoch nie, schon gar nicht von den konservativen Geschmackshütern in Nashville. Mehr als einmal wurden ihre Songs, die sich auch mal mit Themen wie häuslicher Gewalt, Alkoholismus, Emanzipation, Verhütung oder auch dem Vietnamkrieg befassten, von Radiosendern boykottiert. Lynn, die als wohl erste Frau in der Countrymusic ihre Songs selbst schrieb, blieb stur und ein notorischer Freigeist, wie etwa auch die eingangs erwähnte Zusammenarbeit mit Jack White bewies. Ihrem Erfolg tat das keinen Abbruch – ihr Publikum verstand, wovon sie sang, und es fand sich darin wieder.

So wurde die Frau, deren Leben 1980 mit Sissy Spacek in der Hauptrolle unter dem Titel „Coal Miner’s Daughter“ erfolgreich verfilmt wurde, zu einer der bedeutendsten Stimmen in der klassischen Phase der Country Music. Abgehoben hat die „Nashville Lady“ indes auch nach 51 (!) US-Top-10-Hits in den Country-Charts und mehr als 45 Millionen weltweit verkaufter Schallplatten nicht. Im Gegenteil, angesprochen auf ihren Status winkt sie nur ab: „Ich bin kein Star. Ein Star ist etwas da oben im Nachthimmel. Die Leute nennen mich eine Legende. Das bin ich nicht, ich bin nur eine Frau.“ Aber was für eine!

Loretta Lynn_Full Circle_CoverLoretta Lynn: „Full Circle“
Gesamte Titelliste:

1. Whispering Sea Introduction
2. Whispering Sea
3. Secret Love
4. Who’s Gonna Miss Me?
5. Black Jack David
6. Everybody Wants To Go to Heaven
7. Always On My Mind
8. Wine Into Water
9. In The Pines
10. Band Of Gold
11. Fist City
12. I Never Will Marry
13. Everything It Takes (feat. Elvis Costello)
14. Lay Me Down (with Willie Nelson)